Unverdaulicher Abfall vergiftet die Zelle

Team von Prof. Konrad Sandhoff zeigt, dass ein defektes Abbauenzym eine Serie von Folgeschäden im gesamten Körper auslöst

Dr. Susi Anheuser, Prof. Dr. Konrad Sandhoff und Dr. Bernadette Breiden. (c) Foto: Volker Lannert/Uni Bonn

Bei seltenen erblichen Speichererkrankungen wie der Sandhoff-Krankheit oder dem Tay-Sachs-Syndrom kann in den Nervenzellen der Stoffwechselmüll von auflaufenden Gangliosiden nicht richtig entsorgt werden, weil wichtige Enzyme fehlen. Die Folgen für die Patienten sind gravierend: von Bewegungseinschränkungen über Erblindung und geistigen Verfall bis hin zum frühen Tod. Wissenschaftler der Universität Bonn zeigen nun, warum diese Ganglioside auch bei Patienten mit anderen Speicherkrankheiten vorkommen und bei ihnen eine Verschlimmerung auslösen. Die Ergebnisse werden demnächst im „Journal of Lipid Research“ vorgestellt und sind bereits vorab online nachzulesen.

Lysosomen übernehmen in lebenden Zellen die Funktion des Magens. Sie verdauen überflüssige Stoffwechselprodukte und zerlegen sie in ihre Bestandteile, die dann im Zuge des Recyclings für neue dringend benötigte Bau- und Betriebsstoffe der Zelle zur Verfügung stehen. Ist die Verdauung in den Lysosomen zum Beispiel durch Gendefekte blockiert, kommt es zur Speicherung dieses „Zellmülls“. Der wachsende Berg an Abfallstoffen kann etwa für Nervenzellen toxisch sein und bereits in der Kindheit zum Tod führen.

Beim Tay-Sachs-Syndrom und bei der Sandhoff-Krankheit können Bestandteile von Nervenzell-Membranen nicht richtig abgebaut werden, weshalb das Gangliosid GM2 in den Lysosomen gespeichert wird. Bei Gangliosiden handelt es sich um wasserunlösliche Fette, sogenannte Lipide, die vor allem in den Ganglienzellen des Nervensystems vorkommen. Wenn zum Beispiel aufgrund von Gendefekten das GM2-abbauende Enzym, die Hex A, fehlt oder beeinträchtigt ist, kommt es zur zerstörerischen Gangliosid-Speicherung.

Bei der Sandhoff-Krankheit fehlen die Abbau-Enzyme Hex A und Hex B. Wie beim Tay-Sachs-Syndrom führt die GM2-Speicherung zur Zerstörung von Nervenzellen. In den ersten Lebensmonaten entwickeln sich betroffene Kinder normal, später kommt es zur Erblindung, zu Bewegungseinschränkungen und zum geistigen Verfall – bis hin zum frühen Tod. „Bisherige Therapieansätze haben bei diesen neurodegenerativen Gangliosidosen zu keinen wesentlichen Erfolgen geführt“, sagt Prof. Dr. Konrad Sandhoff, Seniorprofessor am LIMES-Institut der Universität Bonn. Enzymersatztherapien seien an der Undurchlässigkeit der Bluthirnschranke für diese Substanzen gescheitert.

Forscher bauen Bedingungen im Reagenzglas nach

Prof. Sandhoff hat gemeinsam mit seinen Mitarbeiterinnen Dr. Susi Anheuser und Dr. Bernadette Breiden entschlüsselt, welche Rolle die molekulare Umgebung im Lysosom für den erfolgreichen Abbau des GM2 spielt. Im Reagenzglas bauten die Wissenschaftler die winzigen Bläschen (Vesikel) nach, an denen im „Zellmagen“ (dem Lysosom) das GM2 abgebaut wird. Normalerweise unterstützt das Hilfsprotein GM2AP dabei, das auf der Hülle der Bläschen sitzende GM2 zu schnappen und loszulösen. Dann kann es zusammen mit dem Abbau-Enzym Hex A zum GM3 abgebaut werden. Wenn aber die Funktion von Hex A blockiert ist, kommt es zur Speicherung mit den für Nervenzellen tödlichen Folgen.

Die Wissenschaftler untersuchten im Reagenzglas die Einflussfaktoren, die einen Abbau des GM2 hemmen oder verbessern. Je kleiner zum Beispiel die Bläschen im „Zellmagen“ sind und je negativer ihre Oberfläche geladen ist, umso leichter kann das Abbauenzym auf das GM2 zugreifen und desto besser funktioniert die „Verdauung“. Die Anwesenheit von Cholesterin und Sphingomyelin dagegen mindert den GM2-Abbau deutlich. Bei den Untersuchungen zeigte sich, dass genau ihre Speicherung bei den Niemann-Pick-Erkrankungen eine zusätzliche GM2-Anreicherung im Lysosom auslöst, die das Krankheitsbild beim Typ C deutlich verschlimmert, obwohl das GM2-abbauende Enzym Hex A intakt und aktiv ist. „Offensichtlich lösen genetisch bedingte Störungen des Abbauenzyms eine Kaskade noch unbekannter Folgeschäden aus“, fasst Sandhoff das Ergebnis zusammen.

In einer weiteren, aktuellen Arbeit zeigt Sandhoffs Team, dass dieses Kaskaden-Prinzip auch für einige erbliche Mukopolysaccharidosen gilt. Dabei löst eine ihrer Speichersubstanzen, das Chondroitinsulfat, durch Hemmung des GM2-Abbaus eine zusätzliche Gangliosid-Speicherung in den Nervenzellen aus. Sie verursacht neben vorhandenem Minderwuchs, vergröberten Gesichtszügen und Lebervergrößerung zusätzlich Lerndefizite und Angstreflexe, die aber im Tiermodell durch Inhibitoren der GM2-Bildung wieder gemildert werden können.

„Ziel derzeitiger Therapieansätze ist es, für diese erblichen Speichererkrankungen die Produktion von GM2 zu verhindern“, sagt Sandhoff. Medikamente, die bislang auf dem Markt sind, erfüllen dies nur teilweise. „Mehr Erfolg verspricht vielleicht die Genersatztherapie, die bei Tiermodellen bereits erfolgreich verlief und demnächst bei Patienten eingesetzt werden soll“, so der Biochemiker weiter. Mithilfe von Fähren sollen Gene mit dem korrekten Bauplan für das GM2-Abbauenzym in die Nervenzellen des Hirns geschleust werden. Sandhoff: „Die Zukunft wird hoffentlich bald zeigen, ob dies tatsächlich eine Therapiemöglichkeit ist.“

Publikation: Susi Anheuser, Bernadette Breiden, and Konrad Sandhoff: Membrane lipids and their degradation compounds control GM2 catabolism at intralysosomal luminal vesicles, Journal of Lipid Research, DOI: 10.1194/jlr.M092551

Kontakt:

Prof. Dr. Konrad Sandhoff
Seniorprofessor am LIMES-Institut
Universität Bonn
Tel. 0228/735346
E-Mail: sandhoff@uni-bonn.de

Prof. Konrad Sandhoff erhielt im Februar 2019 den “Award for a Lifetime of Service to Research and Knowledge of Lysosomal Storage Diseases” der Lysosomal Diseases New Zealand  (LDNZ) für seine lebenslangen Verdienste im Bereich der Forschung zu lysosomalen Speicherkrankheiten.